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Der Rabenschütze

Ein munterer Bergaer Hirtenbube, der einstmals auf dem Kyffhäuserberg seine Schafe hütete, traf unterhalb der Trümmer des Erfurter Tores der Burg ein kleines Männlein an, das da auf einem Felsblock saß und bitterlich weinte. Mitleidig fragte der Bube: „Was fehlt dir denn, Kleiner?" „Ach", sprach das Männlein seufzend, „der Kaiser Rotbart hat mich heraufgeschickt, um nachzusehen, ob die garstigen Raben noch immer um den Turm fliegen. Solange die nicht verschwunden sind, kann er nicht heraus aus dem unterirdischen Schlosse. Und siehst du, da fliegt noch immer ein ganzer, großer Schwärm herum!" „Na, wenn's weiter nichts ist!" rief da der muntere Knabe. „Ich habe ja meine Schlappschleuder mit! Paß mal auf, wie fix ich die schwarzen Gesellen auf den Schwung bringe!" Alsbald suchte er sich flugs die Tasche voll Kieselsteine und schleuderte dann darauf los, was das Zeug hielt, so daß in kurzer Zeit dreiundfünfzig Raben erlegt am Boden lagen. Da freute sich das Männlein so, daß es ganz vergnügt in seine winzigen Händchen klatschte. „Schnell ein paar Kieselsteine!" rief ihm der Hirtenjunge zu. Da aber war nun guter Rat teuer. Soviel auch beide suchen mochten, es waren keine mehr zu sehen. Da hieß der Zwerg den Hütebuben die erlegten Raben zusammenlegen, um sie zum Kaiser in den Berg zu tragen.

Der Junge tat, wie ihm geheißen, und folgte willig und beherzt seinem kleinen Führer durch einen langen, dunklen Gang in den Berg hinein. Nicht lange, so standen sie vorm Kaiser Rotbart. „Nun, wie ist's mit den Raben?" fragte der den Zwerg mit dröhnender Stimme. „Ach, Herr", entgegnete kleinlaut der Zwerg, der Junge hier hat dreiundfünfzig Stück erlegt; doch fliegen ihrer immer noch um den Turm. „Ei", fiel der kecke Junge ein, „wenn ich nur noch mehr Kieselsteine gehabt hätte, da wäre kein einziger davongekommen!" Wohlgefällig betrachtete der Rotbart den Knaben; dann sprach er zu ihm: „Da, füll dir dein Ränzel mit Kieselsteinen und verscheuche die verwünschte Rabenbrut! Mich gelüstet's, wieder einmal mit eiserner Faust da reinzufahren!" Der Bube sackte sich sogleich sein Ränzlein tüchtig mit Steinen voll, ward von dem Zwerglein wieder aus dem Berg geführt und trat nun flugs den Heimweg hinunter nach Berga an; denn es war inzwischen Abend geworden, und die Raben waren nicht mehr zu erkennen. Um seine verschwundene Herde sorgte er sich nicht, die hatte sicherlich ohne ihn den Heimweg gefunden. Da er endlich bei einbrechender Nacht ins Dorf kam, begegnete ihm eine hübsche Jungfrau von etwa zwanzig Jahren, die ihm merkwürdig bekannt vorkam, darum er sie auch alsbald nach ihrem Namen fragte. „Ich bin die Schäfer-Anne", sagte sie. „Die Schäfer-Anne?" rief schier bestürzt der Knabe, und hastig fuhr er fort: „Hast du noch Geschwister?" - „Ach", sprach das Mädchen kummervoll, „einen Bruder hab' ich noch gehabt; aber der ist seit fünfzehn Jahren verschollen. Er hatte damals seine Herde nach dem Kyffhäuser getrieben. Die Herde ist wohl am Abend zurückgekehrt, aber mein Bruder ist niemals wiedergekommen. Da fiel der Bube der nun so groß gewordenen Schwester um den Hals und erzählte ihr stammelnd, was ihm begegnet.

Wie freuten sich nun auch die alten Eltern, da sie ihren verloren geglaubten Sohn wieder hatten! Und wie erstaunten sie noch dazu, da er die Kieselsteine aus seinem Ränzel auf den Tisch schüttete! Die waren alle von lauterem Gold!

Fürderhin ist unser Hirtenbube alljährlich am Himmelfahrtstage mit seiner Schlappschleuder nach dem Kyffhäuser gezogen und hat da der Raben noch gar viele erledigt; aber sie sind trotz alledem weder damals noch bis heute alle geworden.

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